Neue Dimensionen

Gedanken zu Psalm 142  

„Hier habe ich sozusagen eine Nahaufnahme vor mir.“

Wenn ich Davids Geschichte in 1. und 2. Samuel betrachte, klingt sein Leben sehr abenteuerlich und aufregend. Wie viel Angst und Verzweiflung er jedoch durchgemacht hat, wird erst deutlich, wenn ich einen Psalm wie diesen lese, der in einer persönlichen Not entstanden ist. Während die geschichtlichen Berichte eher die große Linie der Ereignisse darstellen, habe ich hier sozusagen die Nahaufnahme einer einzelnen Situation vor mir.


Durch diese Betrachtungsweise entsteht ein ganz anderes Bild. Das gilt nicht nur für Davids Leben, sondern für jede menschliche Biographie. Wenn das Leben eines Menschen auf 200 oder 300 Buchseiten dargestellt wird, erscheinen viele Einzelheiten vor dem Hintergrund dieser Gesamtschau erträglich und sogar sinnvoll. Zusammenhänge werden deutlich, große Linien lassen sich erkennen und man sieht, wie das Schwere oft auch Gutes bewirkt hat.

Diesen Blick hat man aber nicht, wenn man im eigenen Leben drin steckt. Da fällt es schwer, über die momentane Situation hinauszuschauen. Es ist, als krabbelten wir wie kleine Käfer auf der Linie der Zeit entlang, immer weiter vorwärts. Wenn wir zurückschauen, wird uns vielleicht manches klarer, aber den Blick auf die Gesamtheit unseres Lebens haben wir erst, wenn wir am Ende angekommen sind. Und selbst dann sehen wir nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Weltgeschehen, in das wir auf die eine oder andere Weise verwickelt sind. Denn das Leben mancher Menschen entfaltet seine Wirkung weit über deren eigene Zeit hinaus. Gerade auch David ist ein gutes Beispiel dafür.

Er wird einmal als bedeutendster König von Israel gelten. Er wird seinem Volk ewig unvergessen bleiben. Aus seinem Stamm wird der Retter der Welt hervorgehen. Aber das weiß David nicht, als er in der Höhle sitzt und klagt. Er hat nicht den Überblick, was noch kommen wird. Und selbst wenn er es wüsste, müsste er diese belastende und gefährliche Situation trotzdem irgendwie durchstehen. Als Menschen haben wir keine Möglichkeit, uns ein paar Stunden, Tage oder Jahre in die Zukunft zu beamen, wo dann alles wieder anders aussieht. Wir müssen die bösen wie die guten Zeiten durchleben, Moment für Moment, wir können ihnen nicht ausweichen.

Paulus schreibt, dass die gegenwärtigen Leiden nichts sind im Verhältnis zur ewigen Herrlichkeit, die uns erwartet (siehe Römer 8,18).

Das ist wahr, aber nicht in dem Sinn, dass uns die gegenwärtigen Leiden weniger Schmerz verursachen, sondern weil sie in einen größeren Zusammenhang gestellt werden.Jesus erlitt Unglaubliches für uns, als er ans Kreuz genagelt wurde; zu sterben war für ihn jedoch nicht weniger schlimm, nur weil er wusste, er würde auferstehen ...

Wenn ich auf meine eigene Wahrnehmung begrenzt bleibe, bestimmt meine körperliche, emotionale oder seelische Befindlichkeit meine Einschätzung der Situation, ich bin darin gefangen wie David in seiner Höhle. Wenn ich jedoch erkenne, dass es ein größeres Ganzes gibt und ich Teil davon bin, kann dies mir Mut geben, in einer leidvollen Situation auszuhalten.

David schreit zu Gott in seiner bodenlosen Einsamkeit. Er hat keine Menschen mehr, denen er vertrauen kann und die ihn unterstützen. Er ist ganz auf sich allein gestellt und ihm ist klar, dass er kaum eine Chance hat, seinen Feinden zu entkommen. Ihm bleibt nur noch die Klage, und die bringt er vor Gott, denn er weiß: Wenn sein Blick auch auf der zeitlichen Linie nicht weiter reicht als bis zu diesem Moment, so kann er doch nach oben schauen, zu Gott hin. Gott hat alles vor Augen – Vergangenheit und Zukunft, den Einzelnen und die ganze Welt. Und in dem Moment, wo David auf Gott schaut, der die Geschicke des ganzen Universums lenkt, fällt auch ein neues Licht auf seine eigene Situation.

Ein alter Bruder betete früher immer mit dem Text eines Kirchenliedes von Marie Schmalenbach: „Ewigkeit, in die Zeit leuchte hell herein, dass uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine“ – diese Worte sind mir bis heute in Erinnerung geblieben. Sie drücken genau das aus, was ich erlebe, wenn ich im Hier und Jetzt meiner Sorgen stecke und mich in dieser Not zu Gott hin wende.


Es ist, als würde mein Blick zurechtgerückt. Die Dimensionen verändern sich. Wo ich vorher fast nur meinen Kummer wahrgenommen habe, erkenne ich jetzt, dass er nur ein kleiner Teil des Bildes ist, ja, eigentlich nur ein winziger Pinselstrich in einem zweifellos grandiosen Gesamtkunstwerk, das mir noch verborgen ist.


Es ist noch nicht lange her, dass ich das auf sehr eindrückliche Weise erfahren habe: Vor ein paar Monaten kam in meiner Gemeinde ein Thema zur Sprache, das heftige und kontroverse Diskussionen auslöste. Teilweise waren Aggressionen zu spüren, die in keinem Verhältnis zur vorliegenden Sache standen. Alte Konflikte schwappten an die Oberfläche und plötzlich zog sich ein tiefer Riss durch die ganze Gemeinde. Es war verstörend und schmerzhaft zu sehen, wie mein geistliches Zuhause erschüttert wurde, und wie einige Menschen, die mir im Lauf der Jahre lieb geworden waren, plötzlich ein fremdes und hässliches Gesicht zeigten.


Gerade die Gemeinschaft, die mir sonst ein Ort der Zuflucht gewesen war, wurde nun zum Auslöser für Traurigkeit und Enttäuschung, ja mehr noch, manche Brüder und Schwestern weckten durch ihre Haltung Wut, Bitterkeit und Hass in mir. Je mehr ich darüber nachdachte, was alles vorgefallen war, und je länger ich mit Freunden über die düstere Zukunft der Gemeinde sprach, desto schlimmer erschien mir die Situation.


Es war wie eine Negativspirale, aus der ich mit eigener Kraft nicht heraus kam. Menschlich gesehen ging es nicht weiter, und da richtete ich meinen Blick auf Gott und betete mit David: „Ich bin verzweifelt und du allein weißt den Ausweg. Höre mein Rufen, denn ich bin mit meiner Kraft am Ende.“ Es war einerseits ein instinktiver Hilferuf und andererseits eine sehr bewusste Entscheidung, mich nicht mehr an meine Enttäuschung und meinen Groll, sondern an Gott zu klammern.


Durch dieses Gebet rückte Gott selbst – als Herr der Gemeinde und als mein persönlicher Herr – wieder in den Mittelpunkt. Es war befreiend und entkrampfend, neu zu erkennen, dass er von mir nur fordert, ihm an dem Platz zu dienen, an den er mich gestellt hat. Alles andere ist nicht meine Verantwortung, und ich darf ihm getrost zutrauen, dass ihm die Situation nicht entgleitet.


Seither habe ich auch wieder einen anderen Blick für meine Gemeinde und die Menschen, die mir Brüder und Schwestern sind. Nicht alles ist so, wie es sein soll, manches ist traurig und tut weh. Aber wir sind unterwegs. Strecken wir uns nach dem aus, was da vorne ist (Philipper 3,14).


Ich weiß nicht, wie sich die momentane Situation aus dem Blickwinkel der Ewigkeit darstellt. Ich sehe den Gesamtzusammenhang nicht. Aber je mehr ich auf Gott schaue, desto mehr Licht fällt in meine "Höhle der Zeitlichkeit". Und so kann ich wie David schon den Dank und die neue Gemeinschaft vor Augen haben, auch wenn ich noch gar nicht da angekommen bin, wo alles gut ist. Denn ich weiß: Gott ist gut.


Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber man muss es vorwärts leben. Søren Kierkegaard

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