Unbeachtet

Ich blicke nach rechts und schaue aus, doch niemand ist da, der mich beachtet.

Psalm 142,5


Dieser Vers stammt aus einem Psalm, den David als Hilferuf in schwerer Bedrängnis geschrieben hat.

Er ist auf der Flucht. Seine übergroße Beliebtheit beim Volk und sein militärischer Erfolg haben in Saul Eifersucht und Hass geweckt. Der Mann, der einst der gefeierte Günstling des Königs war, muss nun um sein Leben fürchten. Wo er auch hinkommt, läuft er Gefahr, ausgeliefert zu werden.


Wer ihn unterstützt, zieht Sauls Zorn auf sich. So lässt er den Priester Ahimelech zusammen mit 85 weiteren Priestern und den gesamten Einwohnern der Priesterstadt Nob - Männern, Frauen und Kindern - grausam umbringen, weil sie David mit Lebensmitteln und einer Waffe versorgt haben.

Was bedeutet das für David? Auf Menschen kann und darf er nicht mehr zählen. Sein früheres Ansehen kann ihn nicht schützen. Seine Siege von damals bringen ihm in dieser Situation nichts. Alles, wodurch er sich jemals gut und großartig gefühlt hat, ist weggefallen. Beliebtheit, Macht, Erfolg, eine gehobene gesellschaftliche Stellung - nichts davon ist ihm geblieben.



Die Bedrängnis, die er erlebt, ist zweifacher Art: Zum einen ist da die akute Lebensgefahr, in der er steckt. Wenn Saul ihn erwischt, ist er ein toter Mann. Zum anderen ist da die innere Not.

Gerade in einer Situation, in der er Beistand so nötig brauchen würde, steht er völlig allein da. Er ist ganz auf sich selbst reduziert: "Niemand ist da, der mich beachtet." Ich frage mich, ob nicht diese zweite Not sogar die schlimmere ist. Einer Gefahr können wir trotzen, aber was setzen wir dieser abgrundtiefen Einsamkeit entgegen, wenn es keinen Menschen gibt, dem wir uns anvertrauen können?


David ist nicht der Erste und Einzige, der eine solche Einsamkeit durchleidet. Ich bin immer wieder erschüttert, wenn ich das Buch Hiob lese. Verzweifelt versucht da ein Mann, um Verständnis zu werben bei seinen Freunden, aber von allen Seiten erntet er nur Ablehnung und Anklage. Auch er wird ganz auf sich selbst zurückgeworfen, genau in der Situation, wo menschliche Anteilnahme so wichtig und tröstend wäre.


Und ich glaube, dass auch viele von uns schon eine solche Einsamkeit erlebt haben - Momente, in denen uns niemand beachtet hat, obwohl uns elend zumute war und wir Mitgefühl gebraucht hätten. Momente, in denen wir eine Last mit uns herumgetragen haben, die in den oberflächlichen Gesprächen um uns her keinen Platz hatte. Momente, in denen es so aussah, als ob sämtliche Menschen um uns herum eine Gemeinschaft wären, zu der wir keinen Zugang hätten. Momente, in denen alles, was uns scheinbar ausmachte - Erfolg, Beliebtheit, Einfluss, Besitz -, zu einem Nichts zusammenschrumpfte, das gar keine Bedeutung hatte gegenüber der Not in unserem Inneren. Momente, in denen wir plötzlich ganz klar sahen, dass wir letzten Endes komplett auf uns allein gestellt waren und nicht mit Beistand von außen rechnen konnten.



So schmerzhaft es ist, das zu erleben, steckt doch die große Chance darin, sich in so einer Situation ganz auf Gott zu werfen. Dass er immer für uns da ist, dass er uns beachtet und dass er helfen kann, das wissen wir - theoretisch. Aber verlassen wir uns darauf, solange wir von Menschen umgeben sind, die uns unterstützen und tragen?


Manchmal kann es heilsam sein, wenn diese menschliche Unterstützung wegfällt. Notgedrungen richten wir da den Blick auf Gott und erwarten alles von ihm. David tut das in diesem Psalm. Er sagt: "Herr, ich schreie zu dir, ich sage: Meine Zuflucht bist du, mein Anteil im Land der Lebenden."


Und Hiob, der nicht nur mit Verlust, Krankheit und menschlicher Verlassenheit kämpft, sondern Gott selbst als Feind erlebt, kommt doch an den Punkt, wo er unvergängliche Worte der Hoffnung und des Vertrauens ausspricht: "Doch ich, ich weiß: mein Erlöser lebt, als letzter erhebt er sich über dem Staub. Ohne meine Haut, die so zerfetzte, und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen. Ihn selber werde ich dann für mich schauen; meine Augen werden ihn sehen, nicht mehr fremd."


Wenn ich das Gefühl habe, dass niemand da ist, der mich beachtet, möchte ich mich ganz an Gott festmachen. Ich möchte wie David oder Hiob meine Hoffnung und mein Vertrauen auf den gegenwärtigen, erlösenden Gott setzen. Er heißt El-Roï: Gott, der nach mir schaut (1. Mose 16,13).

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